Kleiner Überblick

Freitag, 18. Dezember 2015

Mein Herz für großartige Alben: Different Class

She doesn't have to go to work but she doesn't want to stay in bed 'cause it's changed from something comfortable to something else instead.
Wenn man im Booklet die Seite mit den Lyrics aufschlägt, bekommt man in kleingedruckten Buchstaben die Worte "Please don't read the lyrics whilst listening to the recordings." zu lesen. Was heißt das? Das heißt, dass man sich erstmal auf die Musik einlassen sollte. Logisch.
Wenn man sich dann auf die Musik einlässt, bekommt man fürs erste süßliche Melodien zu hören, voller Sehnsucht und Romantik. Man fühlt sich an eine Zeit erinnert, in der dem Kitsch/dem Pop eine gewisse Unschuld innewohnte, bevor es dort nur noch darum ging, die niedersten Instinkte des Hörers zu bedienen, aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls muss man sich danach die Lyrics durchlesen, um zu merken, dass hinter der Fassade dieser süßlichen Popsongs etwas so ungeheuerliches wie allgegenwärtiges lauert: "common people", die an den Giftpfeilen des Lebens zugrunde gehen, Menschen, die socially awkward sind und sich deswegen in ihren Zimmern wie Yetis in ihren Höhlen verstecken, unerfüllte Liebe, unerfüllte Sehnsüchte, unerfüllte Träume, Angst vor der Liebe, Angst vor dem Sex und nicht zuletzt: das pure Scheitern. Scheitern an zu großen Ambitionen, Scheitern an den Gesetzmäßigkeiten des Lebens, Scheitern an sich selbst, Scheitern an unwiderlegbaren Tatsachen, Scheitern am Hedonismus, Scheitern an der eigenen Unreife, Scheitern, Scheitern, Scheitern.
Starker Tobak. Man könnte meinen, dass Jarvis Cocker seine common people verachtet: Verwöhnt sie auf der einen Seite mit süßlich-romantischen Melodien, konfrontiert sie aber gleichzeitig mit unwiderlegbaren Tatsachen, so als würde er sagen: "Ob du es willst oder nicht, aber damit musst du dich auseinandersetzen." Man könnte ihm glatt Zynismus vorwerfen, diesem Jarvis, wie er kompromisslos seine "einfachen Menschen" verhöhnt, wie er hinter der Fassade des Kitsches deren Probleme unverblümt und sogar mit ätzendem Humor beschreibt. Und dann noch diese Texte: "What is this feeling called love? Why me? Why You? Why here? Why now? It doesn't make no sense, no. It's not convenient, no. It doesn't fit my plans, no. It's something I don't understand." Nach dem Motto: Wir müssen so sehr funktionieren, dass die Liebe uns nicht (mehr?) beflügelt, sondern nur noch frustriert, weil sie unseren großen Plänen im Wege stehe. Fieser geht es kaum!
Aber Moment, da ist noch was anderes, genauer gesagt ein Song: Disco 2000. Neben Common People vielleicht Pulps bekanntestes Werk. Worum geht's da? Es geht um Jarvis höchstpersönlich, der seit seiner Kindheit in Deborah verliebt ist. Natürlich war er a mess. Natürlich wurde es nichts mit der Liebe. Natürlich wurde sie erwachsen und hat geheiratet. Natürlich liebt er sie immer noch. Wie reagiert Jarvis? Mit einer Geste, die so verzweifelt wie berührend ist: Trotzdem bittet er sie, sich mit ihm an einem Sonntag zu treffen, wenn sie will, kann sie ihr Kind mitbringen, so als wolle er sagen: Du bist zwar vergeben, aber trotzdem: Lass uns wiedersehen, lass mich wieder bei dir sein, egal, was zwischen uns steht! Diese Bitte kommentiert er gesanglich mit einem sehnsüchtig-fröhlichen "Ooh ooh oh oh ooh ooh ooh" als ob er immer noch blind auf etwas hofft: auf die Erfüllung seiner Sehnsucht. Damit identifiziert er sich mit all denen, die verbittert ihre Live Bed Show veranstalten und auf etwas hoffen, hoffen, hoffen...
Eine Frage bleibt aber: Wieso bezeichnen sich Pulp dann als Different Class? Wieso inszenieren sie sich als Außenseiter in einer Gesellschaft der common people? Vielleicht liegt es daran, dass sie mit ihrer Sehnsucht anders umgehen. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich den Dogmen der Gesellschaft verweigern, ohne dabei ihre Sehnsucht zu verlieren. Ich weiß es nicht. Ich weiß aber vor allem eines: So sehr der Kitsch auch lügt, so sehr verschönert er auch unser Leben, denn Illusionen ermöglichen uns, das widerspenstige Arschloch genannt Leben irgendwie zu ertragen und ich bin mir sicher: Das weiß auch Jarvis. Ansonsten würde er aufhören, auf ein Wiedersehen mit seiner Deborah zu hoffen.
Trotz allem: Wie können wir es schaffen, uns vom alltäglichen Trott zu emanzipieren, um zur Different Class zu gehören? Vielleicht machen wir einen Schritt vorwärts, wenn wir anfangen auf unserem Recht, anders zu sein, zu beharren. That's all.

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